Page 14 - Konsens 2015
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FOKUS
Die Angst im Gepäck – Von der Not der Frauen und Kinder auf der Flucht
Von Maria von Welser, 2. Vorsitzende des Deutschen Akademikerinnenbundes und Publizistin
Wir sehen die Bilder im Fernsehen, auf den Titelseiten der Tageszeitungen, der Magazine: Flüchtende Menschen, mit einem Rucksack, einer Tasche, oft nur spär- lich bekleidet. Das Flüchtlingsdrama er- schüttert Europa, Deutschland. Leider nicht die ganze Welt.
Was machen diese Bilder in unserem Kopf? Die Flüchtlingsmassen auf den Bahn- höfen von Budapest und Wien, die Asylbe- werber auf den schmalen Pritschen in den Zeltstädten: Väter. Söhne, Brüder, Männer – auf nahezu jedem Foto.
Einige bringen ihre Familien mit. Doch die meisten kommen alleine. Weibliche Flüchtlinge hingegen: eine Seltenheit. Als gäbe es keine Not leidenden Frauen, als wären die Bürgerkriege in Syrien und Eri- trea rein männliche Angelegenheiten. Warum kommen vor allem die Männer über die Balkanroute oder über das Mittel- meer nach Europa. Wo bleiben die Frauen aus den Krisengebieten?
Tatsache ist: Die derzeitige Krise in Europa kommt einer Massenflucht junger Männer gleich: Im vergangenen Jahr waren zwei Drittel der Asylanträge in Deutsch- land von Männern unterschrieben. Mehr als 70 Prozent von ihnen sind lauf Bundes- amt für Migration und Flüchtlinge jünger als 30 Jahre. Das wird sich zum Jahresende 2015 nicht ändern.
Die EU-Statistikbehörde Eurostat schreibt gar: Drei Viertel der 14- bis 34-jährigen Flüchtlinge sind Männer. Sie kommen vor allem aus Syrien, Eritrea und Somalia. Bei den Balkan-Flüchtlingen sei das Verhältnis eher ausgeglichen.
Auf der anderen Seite lese ich in den Sta- tistiken des UNO-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR, dass jeder zweite Flüchtling eine Frau ist. Wie geht das zusammen?
Was geht hier ab? Was läuft da schief? Wo bleiben die Frauen und Kinder?
Deshalb bin ich in die Flüchtlingslager im Osten der Türkei, an der nordirakischen
und syrischen Grenze und in den Libanon gereist.
Erste Erkenntnis: Im ehemaligen „Wil- den Kurdistan“ leben derzeit rund 4500 jesidische Flüchtlinge, Frauen und Kinder. Seit über einem Jahr. Seit den brutalen At- tacken der IS-Terroristen. Die kurdischen Kommunen stellen Wasser und Lebensmit- tel, Kleidung und Decken. So weit – so gut?
Nein – bei Weitem nicht. Die Frauen und Kinder sind schwerst traumatisiert. Erin- nern wir uns an die dramatischen Geschich- ten rund um das Sindschar-Gebirge? An die IS-Terroristen, die bis zum heutigen Tage 1500 Jesidinnen gefangen halten, sie ver- gewaltigen, im Internet verkaufen, die Män- ner in Gegenwart ihrer Familien geköpft haben?
Diese jesidischen Frauen und ihre Kin- der wollen nur noch raus aus dem musli- mischen Umfeld, sie trauen auch den Kur- den nicht mehr, denn die haben sie in Sen-
400.000 syrische Flüchtlingskinder, die seit vier Jahren nicht in die Schule gehen können.
Selbstgebaute Zelte sind im Libanon der einzige Schutz
Fotos: Maria von Welser
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KONSENS 2015


































































































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