Page 15 - Konsens 2015
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FOKUS
gal verraten an die IS. Das jedenfalls erzäh- len sie mir alle.
Aber: Sie kommen nicht raus, nicht weg, der nächste Winter steht bevor. Das ist aber nur ein kleiner Teil eines derzeit weltwei- ten Dramas.
Die Flüchtlingslager in der Türkei, im Li- banon, in Jordanien sind voller Frauen und Kinder. Die Männer, Väter, Söhne sind davon. Denn Tatsache ist: Für sie werden die Gelder in den Familien zusammenge- kratzt. Damit sie einen engen, unsicheren, oft tödlichen Platz dennoch ergattern von den Schleusern, hinaus aufs Meer, hinüber nach Lampedusa, der geschundenen italie- nischen Insel im Mittelmeer. Oder wie in diesem Herbst, als über 25.000 Syrer in Izmir auf ein wackeliges Boot warten, zur Überfahrt in das übervolle Griechenland. Aber: Immerhin Europa.
Das Fluchtgeld geht an die Männer
Frauen und Kinder bleiben auf den Flucht- wegen zurück. Bei ihnen ist es nicht so si- cher, ob sie es schaffen ins gelobte Europa. Ob sie dann wirklich einen Asylantrag stel- len können, einen Job finden, Geld sparen, um vielleicht die restliche Familie nachzu- holen. Das ist die Wirklichkeit der derzeit rund 60 Millionen Menschen, die – laut UNHCR – derzeit weltweit auf der Flucht sind. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben nie mehr Menschen ihre Heimat verlassen.
„Historisch beispiellos ist nicht der Ver- lust der Heimat“ – so schrieb 1951 die jüdi- sche Philosophin Hannah Arendt, „sondern die Unmöglichkeit eine neue zu finden.“
Das passt auch auf die heutige Zeit. Wie- der mal. Historisch beispiellos ist die Un- möglichkeit, eine neue Heimat in Europa zu finden, weil es nahezu unmöglich ge- worden ist, lebend und legal nach Europa zu kommen.
Und nochmal Hannah Arendt, damals: „Es war kein Raumproblem, sondern eine
Frage der politischen Organisation“. Wie wahr. Bis heute.
Sind im Osten der Türkei wenigstens die Zelte vom Militär und wesentlich stabiler, hausen die Flüchltinge in Libanon in soge- nannten „informal tented settlements“ – in ITS. Die halten weder den eisigen Wind ab, noch helfen sie bei großer Hitze. Im Winter brechen sie unter den Schneemas- sen zusammen.
Hat die Türkei bis jetzt 2 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, bei einer Bevöl- kerung von 75 Millionen, so versuchen im kleinen Libanon mit 4,5 Millionen Einwoh- nern ebenfalls 2 Millionen Menschen zu überleben. Überwiegend auch hier: Frau- en und Kinder. Der Libanon ist zu arm, die Menschen mit Lebensmitteln, Wasser, Decken und Medikamenten zu versorgen. So bleiben nur die 13 Dollar pro Monat und Flüchtling. Die Kinder und Frauen arbei- ten bei den Grundbesitzern, auf deren Feldern sie ihre „settlements“ erstellen durf- ten. Die wenigen Schulzelte von UNICEF und anderen Hilfsorganisationen werden darum kaum frequentiert.
Geld ist kaum mehr vorhanden. Das haben die Männer bekommen, oder die äl- teren Söhne, um sich auf den Weg nach Europa zu machen. Die Frauen hoffen. Auf einen fernen Frieden in ihrer Heimat – oder auf den erfolgreichen Asylantrag des Man- nes und den Nachzug der Familie. Und das zum Teil seit vier Jahren.
Die Industrienationen müssen dringend helfen
Selten bin ich aus einem Land deprimier- ter abgereist. Tief im Inneren die Angst vor dem kommenden Winter – wie viele Kin- der werden ihn nicht überleben? Wie viele Frauen schwer krank werden?
Es ist dringend nötig, dass die Industrie- nationen den armen und kleinen Ländern wie Libanon und Jordanien mit den Millio- nen Flüchtlingen helfen. Mit Geld und Me- dikamenten, mit festeren Zelten und wär-
menden Decken. Das wäre das Mindeste, finde ich.
Folgen Sie mir nach Amman, in die jorda- nische Hauptstadt.
Hier kommen bis zum heutigen Tag immer neue Flüchtlinge an. Kein Wunder bei den immer härteren Kämpfen in Syrien. UNICEF spricht von 1,5 Millionen in den Lagern. Und auch hier heißt es: 80 Prozent Frauen und Kinder. Ihre Männer und Väter kämpfen entweder oder sind in diesem Krieg umgekommen. Tot.
Vor allem sexuelle Gewalt greift um sich
Die Frauen und Kinder wiederum haben ihr Land vor allem wegen der danach dro- henden sexuellen Gewalt durch die IS-Ter- roristen verlassen. Wegen Zwangsverhei- ratungen, Zwangsprostitution, Verstößen gegen neue „Kleiderordnungen“, die harsch geahndet werden. Vor allem sexuelle Ge- walt greift wohl gerade in Kriegen und Kri- sensituationen besonders um sich. Doch auch in den Gastländern wie Jordanien leben sie nicht in Sicherheit. Nicht als Frau- en. Sie kommen quasi aus einem Krieg in den nächsten Krieg. Den Krieg gegen die Frauen.
Internationale und auch lokale Hilfsorga- nisationen berichten von sexueller Nöti- gung, Frauenhandel, Kurzzeit-Ehen, Kin- derbräuten. Für die flüchtenden Syrerin- nen bedeutet die Flucht in das vermeint- lich sichere und friedliche Nachbarland neues Leid, neue Not. Ein Leben in Angst und Isolation, mit erniedrigenden Erlebnis- sen und im Elend.
Was passiert da?
Die männerlosen, väterlosen Frauen und Mütter sind im fremden Land ohne Schutz. Sie müssen überleben und ihre Kinder ver- sorgen. Es gibt zwei Mal im Monat Lebens- mittel-Gutscheine von den Vereinten Na- tionen.
Die Mieten für winzige Wohn-Löcher sind dreimal so hoch wie für syrische Ein-
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