Page 17 - Konsens 2015
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Ende der Neunziger Jahre war ich mit mehreren Menschen aus drei Genera- tionen in Minsk, der Hauptstadt Beloruss- lands. Wir hatten uns einem von der evan- gelischen Kirche von Hessen und Nassau organisierten Seminar angeschlossen. Ein Jahr vorher waren ehemalige Zwangsarbei- ter aus Weißrussland auf Einladung der Stadt Frankfurt in Deutschland.
Nun flogen wir nach Minsk, um unsere neuen alten Freunde wiederzusehen. Wir verbrachten eine Woche gemeinsam mit ihnen in einem Haus außerhalb der Stadt.
Aber nicht nur mit ihnen, sondern auch mit ihren Kindern und Enkeln, denn wir wollten wissen, wie die vielen Jahre nach dem Krieg von den Beteiligten gelebt und verkraftet wurden, wie sie heute leben und welche Zukunftspläne sie haben. Es ging also nicht nur um Geschichte und um Po- litik, sondern um das Leben schlechthin.
Wir hatten also drei Generationen bei- einander. Im Mittelpunkt unserer Reflexio- nen stand jedoch jene, die vom Krieg am unmittelbarsten betroffen war. Mit allen diesen Menschen wollten wir sprechen, spazieren gehen, essen, trinken, eine Woche lang zusammen sein, nicht einfach nur zu- hören. Wir wollten sehen, was in ihrem Lebensablauf, im Gegensatz zu unserem, anders war.
Geschichtskurs für die Enkelgeneration
Das Miteinander dieser drei Generationen aus zwei Ländern war das eigentliche Ziel unserer Begegnung, nämlich das Zusam- mentreffen mit denjenigen, die den Zwei- ten Weltkrieg erlebt hatten, mit den Kin- dern und Enkeln. Mein Geschichtskurs war ein Teil der Enkelgeneration. In unzähligen
Gesprächsrunden und Exkursionen mit allen Teilnehmern, den weißrussischen und den deutschen, wurde geweint und gelacht, stundenlang geredet und abends beim Wodka zusammen gesungen.
Und dann kam eines Nachmittags über- raschend die Schriftstellerin Swetlana Ale- xijewitsch in unsere Gruppe. Allerdings habe sie nicht lange Zeit, hieß es gleich.
Und dabei hatten wir doch so vieles zu fragen und wollten mit ihr über ihre Bü- cher sprechen.
Ich hatte vorher ihr erstes in Deutsch er- schienenes Buch „Der Krieg hat kein weib- liches Gesicht“ gelesen, das mich seiner- zeit sehr bewegte. Dies ging mir durch den Kopf, während ich Frau Alexijewitsch be- trachtete.
Sie lässt in diesem Buch russische Front- kämpferinnen zu Wort kommen, die sich freiwillig zum Dienst in den Krieg gemel- det hatten. Es ist ein erschütterndes Zeug- nis menschlichen Leidens. Solche Erlebnis- se dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Sie müssen in Erinnerung bleiben und immer wieder an die nächste Generation weitergegeben werden.
Es ist der Schriftstellerin gelungen, die Gefühle aus den einzelnen Gesprächspart- nerinnen unglaublich intensiv herauszu- locken. Es ist ein Frauenbuch. Der Frau wird dort ein Denkmal gesetzt.
Nun sitzen wir also dieser Swetlana Ale- xijewitsch gegenüber. Im Gegensatz zu den meisten Frauen in der ehemaligen UdSSR ist sie überhaupt nicht geschminkt, diese kleine, unscheinbare Person mit dem blass und müde wirkenden runden Gesicht.
Wie eine Bäuerin, denke ich.
In großes Erstaunen versetzt uns alle ihre Stimme. Sie passt nicht zu ihrem sonst so schlichten Äußeren. Diese Stimme ist glo-
ckenhell, dabei aber sehr sanft und weich. Merk- würdig singend kommen ihre Worte.
Swetlana spricht
über ihr letztes
Buch, das von
Selbstmördern
handelt. Sie erwähnt auch noch ein ande- res über den Krieg in Afghanistan, in dem sie russische Soldaten zu Wort kommen lässt. Irgendwann sagt sie, dass sie seit vie- len Jahren eigentlich ein Buch über die Liebe schreiben wolle, aber das Thema Tod und Leiden sie bisher noch nicht losgelas- sen hätte.
Nach einer Stunde steht sie auf und sagt bedauernd, dass sie jetzt gehen müsse.
Weil sich ihr Fahrer wohl verspätet hat, nutze ich die Gelegenheit, um ihr noch ei- nige Fragen zu stellen, sozusagen als eine Art kleines Interview über ihre Arbeit und dazu, ob der Krieg nicht auch ein weibli- ches Gesicht habe.
Ich möchte wissen, ob es im Krieg, also im Gegensatz zu Friedenszeiten, zwischen Männern und Frauen oder auch einfach zwischen Menschen nicht besondere Mo- mente der Humanität gibt, warum russi- sche Frontkämpferinnen vom Krieg immer wieder als einer besonderen Zeit der Nächs- tenliebe, der Schwesternliebe sprechen, die sie nicht missen wollen.
Swetlana Alexijewitsch verweist mich auf das Vorwort ihres Buches. Und sie sagt: „Das Wissen um die Frau an sich lässt sich mit dem Begriff Barmherzigkeit um- schreiben. Sie ist Schwester, Freundin, Ehe- frau und vor allem Mutter. Die Frau schützt und schenkt Leben. Die Frauen fühlten sich
FOKUS
Unser Vorstandsmitglied Dr. Rosemarie Killius begegnete durch Zufall auf einer Reise nach Belorussland der dies- jährigen Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch Wie sie es schaffte mit ihr ins Gespräch zu kommen, lesen Sie hier:
KONSENS 2015
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Dr. Rosemarie Killius