Page 48 - Konsens 2015
P. 48

Preisträgerin 2015 Martina Koederitz und Prof. Dr. Ulrike Detmers
FORUM
In anderen Disziplinen hatten sich zu gleicher Zeit Ansätze entwickelt, die Zwei- fel an der Annahme aufkommen ließen, dass Präferenzen ‚natürlich‘ bedingt und stabil seien. Das, was als typisch weiblich und männlich gelte, sei tatsächlich kultu- rell und sozial konstruiert – und könne er- lernt werden (heute: Gender).
Die wohl berühmteste Studie in diesem Zusammenhang war die von Harold Gar- finkel aus dem Jahr 1967. Er beobachtete den Anpassungsprozess der transsexuellen Agnes nach ihrer Operation zur Frau an das kulturelle Frauenbild im Kalifornien der 1960er-Jahre. Dazu gehörte etwa, dass sie in Gesprächen nicht so oft insistieren, ihre Meinung sagen und sich durchsetzen soll- te, weil das unweiblich sei. Garfinkel deck- te Mechanismen auf, die verdeutlichten, dass Verhaltensweisen und Präferenzen, die damals gemeinhin als ‚natürlich’ gal- ten, als ein in der Alltagspraxis wechsel- seitig erzeugtes und damit gemeinschaftli- ches Produkt von Zuschreibungen waren. [... die sich von Kultur zu Kultur unter-
scheiden können ... wie weitere Studien zeigten].
Problematisch an diesen Zuschreibungen war, dass als typisch weiblich und typisch männlich geltende Eigenschaften und Fä- higkeiten nicht auf Augenhöhe – wertgleich – nebeneinander standen, sondern in eine Rangordnung gebracht wurden, wobei das als männlich Geltende über dem Weibli- chen stand. Beispiele sind etwa stark (m)/ schwach (w), rational (m)/emotional (w).
[Wir müssen übrigens gar nicht in die USA der 1960er-Jahre gehen, um den Ein- fluss der Kultur auf das Verhalten von Frau- en auf dem Arbeitsmarkt aufzuzeigen. Auch 25 Jahre nach der deutschen Vereinigung zeigten sich immer noch gesellschaftliche Unterschiede zwischen West- und Ost- deutschland. In den östlichen Landestei- len, in denen die Versorgerehe keine Tra- dition hatte, waren Mütter damals weit häufiger und mit einem weit höheren Er- werbsumfang tätig als in Westdeutschland. Der Gender Pay Gap war gering und der Frauenanteil in Führungspositionen lag deutlich über dem im Westen. (Holst/Wie- ber 2014)]
Warum erzähle ich Ihnen das alles heute auf einer Festveranstaltung des Jahres 2115, in einer Zeit, in der wir schon viel weiter sind? Weil derartige Erkenntnisse wesent- lich dazu beigetragen haben, die staatliche Rahmung und die betriebliche Organisa- tion von Arbeit so zu modernisieren, dass wir die großen wirtschaftlichen Herausfor- derungen in den letzten 100 Jahren erfolg- reich bewältigen konnten.
Aber–dasgebeichzu–eswareinlan- ger und nicht einfacher Weg.
II. Empirische Ergebnisse
Die alte Geschlechterordnung spiegelte sich auch noch 2015 auf dem Arbeitsmarkt wider. Vielleicht können sich die historisch Interessierten unter Ihnen noch daran er- innern.
Westdeutschland war von einer ähnli- chen Spaltung in Frauen- und Männerbe-
rufe geprägt wie in den 1970er-Jahren, als die Versorgerehe noch dominierte.
Besonders krass waren die Geschlechter- unterschiede auf Platz 2 der Hitliste der Be- rufe 2010: Bei den Frauen stand dort die „Reinigungskraft/Helferin o.S.“ (4,8 Pro- zent) – bei den Männern waren es „Ge- schäftsführer“ und „Vorstand“ (2,1 Pro- zent). 43 Prozent der Frauen, aber nur 27 Prozent der Männer häuften sich in den je- weils 20 beliebtesten Berufen. (Statistisches Bundesamt 2014)
Frauen verdienten 2013 in Deutschland im Schnitt pro Stunde 22 Prozent weniger als Männer. Diese Verdienstlücke war seit Jahren eine der höchsten in den EU-Län- dern (16 Prozent). (Eurostat 2015)
Erklärt wurden Verdienstunterschiede mit Unterschieden in der Humankapital- ausstattung, in Bildung und Berufserfah- rung, Erwerbsumfang und Erwerbsunter- brechungen, in denen egalitäre Geschlech- ternormen vorherrschten (Hipp/Leutze 2015). Vom Gesetzgeber wurden im Laufe der Jahre entsprechend die Rahmenbedin- gungen modernisiert.
Auf Unternehmensseite wurden geziel- te Schritte unternommen, um das Potenzi- al hervorragend ausgebildeter Frauen bes- ser auszuschöpfen.
Im ersten Schritt committeten sich Unternehmensleitungen, den Anteil von Frauen in Führungspositionen nachhaltig zu erhöhen.
Im Zuge dessen wurden zweitens ver- bindliche Ziel- und Zeitgrößen auf unter- schiedlichen Führungsebenen festgelegt und von finanziellen Anreizen etwa in Form von Boni und Sanktionen begleitet.
Der Pool infrage kommender Bewerbe- rinnen wurde drittens durch die Herstel- lung echter Aufstiegschancen von Frauen vergrößert.
Transparenz war hier das entscheidende Schlagwort.
Viertens war entscheidend, dass die Le- bensverlaufsperspektive für Frauen und für Männer in die Personalentwicklung inte- griert wurde. Mehr Zeitsouveränität war eine wichtige Voraussetzung, Wechselfäl-
48
KONSENS 2015


































































































   46   47   48   49   50